Nach einer zweijährigen Blamage lässt Russland Telegram wieder zu

Die russische Medienaufsicht hat ihren Kampf gegen den beliebten Nachrichtendienst Telegram vorerst beendet. Das bedeutet aber nicht, dass die Freiheit im russischen Internet nun gesichert wäre.

Markus Ackeret, Moskau
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Telegram-Logo auf einem Bildschirm.

Telegram-Logo auf einem Bildschirm.

Thomas White / Reuters

Jeden Morgen verschickt der Moskauer Corona-Krisenstab über den Messenger-Dienst Telegram die neuesten Zahlen über die Ausbreitung der Pandemie in Russland. Auch bei vielen Behörden, Politikern und Funktionären ist der vom Russen Pawel Durow gegründete Dienst sehr beliebt. Das Paradoxe daran ist: Telegram war im Frühjahr 2018 per Gerichtsbeschluss in Russland gesperrt worden. Die Nutzung war damit, wie russische Staatsdiener zu ihrer eigenen Rechtfertigung stets betonten, nicht verboten. Aber die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hatte eigentlich für eine Blockierung des Zugangs in Russland zu sorgen. Am Donnerstag nahm sie in Absprache mit der Generalstaatsanwaltschaft die Verfügung zurück. Das erscheint in erster Linie als ein Sieg der Vernunft, denn allen Bemühungen zum Trotz blieb die Applikation auf dem Mobiltelefon weiterhin fast problemlos nutzbar.

Die Falschen getroffen

Die Versuche von Roskomnadsor, den Gerichtsentscheid vom April 2018 zu vollstrecken, endeten sehr schnell in einer Blamage für die Behörde. Die Bemühungen, IP-Adressen zu sperren, um damit Telegram zu blockieren, waren so ungenau, dass durch die Massnahme Tausende von eigentlich unbescholtenen Internet-Plattformen, Dienstleistungen und übers Internet funktionierenden Haushaltgeräten zum Stillstand kamen. Geschichten von «klugen» Boilern, Klimaanlagen und Weckern, die plötzlich aussetzten, weil Roskomnadsor versehentlich mit ihnen verbundene IP-Adressen ins Visier genommen hatte, riefen Ärger hervor und machten die Behörde und Russlands staatliche Zensur-Anstrengungen zum Gespött. Überspitzt war von «IP-Genozid» die Rede.

Telegram hat sich in Russland zu einer eigentlichen Informationsbörse entwickelt. Eine Vielzahl an oft anonymen Kanälen ist zu einem wichtigen Ort des Austauschs, der schnellen Nachrichten, Gerüchte und Spekulationen geworden. Intrigen in der russischen Politik sind ohne die von bekannten Journalisten, Politikberatern, Funktionären und dubiosen Strippenziehern bespielten Rubriken kaum mehr vorstellbar. Dass die ausgeklügelte Verschlüsselungstechnik des Dienstes – nicht nur in Russland – auch Extremisten aller Art anzieht, machte Telegram aber zur Zielscheibe des FSB. Dieser verlangte Zugang zur Verschlüsselung. Durow beharrte auf der technischen Unmöglichkeit dieses Begehrens. Das führte zur gerichtlich verfügten Sperre.

Mutmassungen über Gründe

An den Vorbehalten, die nicht nur die russischen Geheimdienste gegenüber Telegram haben, hat sich nichts geändert. Die Begründung für die Deblockierung durch Roskomnadsor, Durow habe sich jüngst zu besseren Methoden bekannt, extremistische Inhalte rechtzeitig zu erkennen, wirkt eher als Ausflucht. Der ausserhalb Russlands lebende IT-Entwickler hatte auch früher gesagt, er wolle nicht, dass Telegram Terroristen Sicherheit biete. Weil Durow jüngst Rückschläge in den USA mit seinem Blockchain-Projekt erlitt und sich negativ über Amerika äusserte, argwöhnten russische Kommentatoren, die Deblockierung könnte mit möglichen Zugeständnissen gegenüber den russischen Behörden zu tun haben. Durow wies den Verdacht zurück.

Die Entscheidung von Roskomnadsor fiel mit einem Gesetzesvorstoss in der Duma zusammen, der angesichts des Einsatzes von Telegram in der Corona-Krise dessen Deblockierung verlangte. Der Rückzieher der Behörde zeigt die Grenzen der Internet-Überwachung in Russland. Eine Abkehr von der zunehmenden Einschränkung der Freiheit im Netz bedeutet er aber nicht, wie ein gerade publizierter Bericht von Human Rights Watch in Erinnerung ruft. Die strafrechtliche Verfolgung von angeblichen Fake-News, die technische Abkopplung des russischen Internets von der Aussenwelt und dessen viel engere staatliche Kontrolle zeigen bereits Wirkung.