Vater Shahrokh giesst vor dem Shabbat Essen ein Glas Rotwein ein. Der Sohn Ariyan wird aus dem Tanach ein Gebet zum Shabbat vorlesen.

Vater Shahrokh giesst vor dem Shabbat Essen ein Glas Rotwein ein. Der Sohn Ariyan wird aus dem Tanach ein Gebet zum Shabbat vorlesen.

Schabbat mit eigenem Wein: Iran ist der Erzfeind Israels und zugleich das Zuhause der grössten jüdischen Gemeinde in der muslimischen Welt

Schätzungsweise 10 000 Juden leben heute noch in Iran. Sie fühlen sich, wie die Familie Musazadeh, keineswegs diskriminiert. Das hat vor allem mit dem Republikgründer Khomeiny zu tun, der die Minderheit unter Schutz stellte.

Jan Schneider (Text und Bilder), Teheran
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Es ist Freitagabend, und eine jüdische Familie bereitet sich auf den heiligsten Tag der Woche, vor. Aus der Küche schwebt der Geruch von warmem Essen ins Wohnzimmer, und die Familie sammelt sich dort um den grossen Tisch, um den Schabbat traditionell zu feiern. Der jüngste Sohn bricht das ungesalzene Brot, und der Vater schenkt ein obligatorisches Glas Rotwein ein, um es einmal um den ganzen Tisch zu reichen, während der Sohn aus dem Tanach liest. Was sich nach einer ganz normalen Szene anhört, wie sie sich in Tausenden Haushalten in Israel jedes Wochenende abspielt, findet in diesem Fall in Iran statt.

In Teheran sind die letzten Sonnenstrahlen an diesem kalten Wintertag im Januar hinter dem Elburs-Gebirge verschwunden. Es ist der letzte Tag der Woche, die in Iran samstags beginnt. Zwischen kleinen Kiosken und Supermärkten sticht hier kein Gebäude hervor, schon gar keins, das einem sakralen Zweck dient. Im Viertel Yusuf-Abad steht die grösste Synagoge Irans, sie ist – wie alle im Land – von aussen nicht als solche zu erkennen. Und doch sieht ein findiger Besucher genau, dass er sich am richtigen Ort befindet. Jeden Freitag, immer zum Sonnenuntergang, strömen die Gemeindemitglieder in die Synagoge. Es ist viel Verkehr auf der Strasse, und Parkplätze sind in der iranischen Hauptstadt mit ihren etwa 12 Millionen Einwohnern immer rar.

Iran ist in der einzigartigen Situation, politisch zwar als Erzfeind Israels dazustehen. Der Revolutionsführer Ali Khamenei und weitere hohe Politiker sprechen der jüdischen Nation gar ihr Existenzrecht ab. Gleichzeitig ist das schiitisch-islamisch geprägte Land das Zuhause für die grösste jüdische Gemeinde in der muslimischen Welt, Schätzungen gehen von etwa 10 000 Juden aus. Die Familie Musazadeh, die an diesem Tag Schabbat feiert, ist Teil dieser Gemeinde.

Synagogen ohne Wachschutz

Die Revolution hat zweifellos ihre Spuren hinterlassen: Vor 1979 lebten zehnmal so viele Juden im Land. Doch obwohl es mit Israel im Streit liegt, betonen iranische Politiker und Geistliche bei jeder Gelegenheit, dass nicht die Juden das Problem seien, sondern der israelische Staat. «Wir erkennen an, dass unsere Juden mit diesen gottlosen Zionisten nichts zu tun haben», sagte Ayatollah Khomeiny kurz nach der Revolution. Dieses Zitat steht heute an jedem jüdischen Bethaus. Das haben die Iraner verinnerlicht, gleich welcher Religion sie angehören. Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum bedarf es in Iran bei jüdischen Einrichtungen keines Wachschutzes, Iran hat noch nie einen Anschlag auf eine Synagoge gesehen.

Nach mehreren grossen Auswanderungswellen hat sich die Zahl der Juden stabilisiert. Israelischen Statistiken nach migrierten von 2002 bis 2010 nur 1100 Juden nach Israel. Den Verbliebenen bietet sich eine überraschend positive Perspektive. Sie sind als Minderheit anerkannt, haben einen festen Sitz im Parlament und geniessen Religionsfreiheit. Sie haben eigene Metzgereien, ihre Rabbis führen Hochzeiten durch, und die Gemeinde darf für den Schabbat ihren eigenen Wein herstellen und konsumieren. Und das, obwohl in Iran Alkohol sonst streng verboten ist. «Wir lieben Iran, und wir können hier ein freies Leben leben», sagt Eliyan Musazadeh, die älteste Tochter der Familie Musazadeh. Die 24-Jährige lebt mit ihrer Familie im Zentrum Teherans, sie sind die einzigen Juden im Haus. «Unsere Nachbarn wissen, dass wir Juden sind, aber es gibt keine Probleme. Überhaupt hat die Gesellschaft kein Problem mit uns, weil wir Juden sind.»

Eliyan neben ihrer Oma.

Eliyan neben ihrer Oma.

Juden können in Iran keine führenden Positionen in staatlichen Institutionen wie Armee, Polizei oder Geheimdienst wahrnehmen, nehmen aber sonst genauso am gesellschaftlichen Leben teil wie andere Iraner. Die Rechte der Juden wurden über die Jahre durch den Staat gestärkt. Unter Präsident Rohani wurde ein Denkmal für die jüdischen Märtyrer des Iran-Irak-Krieges gebaut, und seit einigen Jahren haben Juden das Recht darauf, am Schabbat, dem Samstag, nicht arbeiten gehen zu müssen. «Ich habe ein paarmal nach Arbeit gesucht, und als ich beim Vorstellungsgespräch die Frage bejaht habe, ob ich Jüdin sei, bekam ich eine Absage», sagt Eliyan. «Nicht weil sie nicht mochten, dass ich Jüdin bin, sondern weil sie wussten, dass sie mir wegen des Gesetzes am Samstag freigeben müssen, wenn ich das wollen würde.»

Wenn Juden in Iran einen Job nicht bekämen wegen ihrer Religion, habe das also damit zu tun, dass das Gesetz auf ihrer Seite sei und der Arbeitgeber ihnen auf Wunsch einen Tag die Woche extra freigeben müsse, meint sie. «Es gibt keinen Antisemitismus in Iran. Iran ist ein sehr multiethnisches und buntes Land, und Iraner sind stolz auf ihre Vielfalt und Geschichte.» Als älteste Tochter der Familie wäre Eliyan eigentlich an der Reihe, sich bald einen Verlobten auszusuchen. «Mein Vater stellt mir immer mal wieder Bewerber von befreundeten Familien vor, aber ich sage allen ab. Sie sind alle wohlhabend, aber entweder zu dick oder zu alt oder beides.» Das Problem ist, dass Eliyan als älteste Tochter der Familie zuerst heiraten muss, erst dann dürfen sich ihre anderen beiden Schwestern Nazanin und Yasaman mit Männern verabreden.

Zuerst Iraner, dann Juden

Wenn die Familie am Freitagabend Schabbat feiert, macht sie es meistens zu Hause. Die Musazadehs gehen nur selten in ihre Synagoge, obwohl sie nur ein paar Strassen entfernt ist. Zum heutigen Schabbat sind drei Cousins von Eliyan zu Besuch, Rafael, Ariel und Avraham. Die Mutter Anita hat alles bereits am Nachmittag gekocht, da gläubigen Juden am Schabbat jegliche Form von Arbeit, Feuer oder Elektrizität verboten ist. Den Reis bereitet Anita am Abend trotzdem frisch zu. «Ich kann doch zum Abendessen keinen kalten Reis servieren.» Ein Satz, dem jede Iranerin zustimmen würde. Das einzige Familienmitglied, das regelmässig religiöse Gesetze ignorieren darf, ist der Vater Shahrokh, er führt einen kleinen Vertrieb für Frauenschuhe und Taschen. Ohne grosses Aufheben sitzt er am Schabbat abends auf der Couch und zappt durch die Kanäle des iranischen Satellitenfernsehens, während Mutter Anita zwischen den drei Töchtern, dem jüngsten Sohn Ariyan und dem Hund der Familie durch die Küche läuft, um das Essen vorzubereiten.

In Momenten wie diesen wird klar, warum die iranischen Juden zuerst Iraner und dann erst Juden sind. Wie die meisten Iraner lieben auch die Musazadehs ihr Land nahezu uneingeschränkt. Dennoch empfinden sie wie andere Mitbürger auch die wirtschaftliche Situation als belastend. «Ich würde gerne ins Ausland gehen, vielleicht Europa oder Kanada. In Iran findet man eigentlich keine gut bezahlte Arbeit mehr, und es wird jedes Jahr schlimmer.» Auch das verbindet sie mit anderen Jugendlichen in Iran: Viele sehen in ihrem Land keine Zukunft mehr und möchten gerne zumindest temporär für Arbeit oder Studium ins Ausland gehen.

Ein automatischer Schalter sorgt dafür, dass am Shabbat das Licht in der Küche automatisch abends angeht, da Juden am Shabbat keine elektrischen Gegenstände benutzen dürfen.

Ein automatischer Schalter sorgt dafür, dass am Shabbat das Licht in der Küche automatisch abends angeht, da Juden am Shabbat keine elektrischen Gegenstände benutzen dürfen.

«Amerika oder Israel kämen für mich aber nie in Betracht. Eine Verwandte von uns hat einmal die USA besucht, und sie fand es furchtbar. Sie mochte die Kultur und das hektische Leben dort überhaupt nicht.» Eine Tante von Eliyan, die letztes Jahr verstorben ist, war ausserdem zur medizinischen Behandlung in Israel. «Wir hätten als Juden die Möglichkeit, nach Israel auszuwandern, und die dortige Regierung würde das sogar mit etwa 15 000 Dollar belohnen. Aber dort müssten wir Hebräisch sprechen, eine Sprache, die wir nur in religiösem Kontext nutzen. Für uns wäre das einfach seltsam, und ich würde mich dort nicht zu Hause fühlen. Iran ist unser Zuhause.»

15 000 US-Dollar sind viel Geld in einem Land, das so am wirtschaftlichen Abgrund hängt und in dem der Mindestlohn etwa 100 US-Dollar im Monat beträgt. «Wir lesen den Tanach und religiöse Texte zwar auf Hebräisch, aber unsere Sprache ist das Persische. In Israel müssten wir wie in jedem anderen Land auch erst die Sprache lernen», erläutert Eliyan. Als das Essen serviert wird, stellt der Vater Shahrokh noch eine Flasche selbstgekelterten Wein auf den Tisch. Jeder hält ein Glas in der Hand, als der jüngste Sohn Ariyan noch ein Gebet vorliest. Es gibt Salate mit Granatapfelkernen, den für den Schabbat obligatorischen Fisch, iranisches Barbari-Brot und Gondi, einen Knödel aus Kichererbsen und Hähnchen, der ausschliesslich unter iranischen Juden gegessen wird.

Sogar die Devotionalien, welche die Wohnung als das Zuhause einer jüdischen Familie erkennbar machen, werden alle in Iran hergestellt und verkauft. Teheran hat sogar einen Laden direkt neben der britischen Botschaft. In dem Geschäft, auf dessen Fenstern in grossen lateinischen Buchstaben dessen Name «Baba Moses» prangt, hängen Visitenkarten von fast allen gegenwärtigen und ehemaligen Botschaftern des Landes, die hier schon eingekauft haben. «Wir sind eine jüdische Familie aus Isfahan, dort gibt es eine Gemeinschaft mit etwa 1000 Juden. Für uns ist es völlig normal, dass in unserem Schaufenster hebräische Buchstaben und Davidsterne zu sehen sind. Es gibt dieses Geschäft schon seit den Zeiten des Schahs, und nie hatten wir auch nur ein Problem mit dem Staat oder unseren Nachbarn hier», sagt einer der drei Verkäufer. Über ihm an der Wand hängt ein Gemälde einer jüdischen Hochzeit direkt neben einem Foto von Imam Ali, der von schiitischen Muslimen verehrt wird.

Davidstern und Imam Ali

Trotz der guten Situation für die Juden im Land war die Revolution 1979 aber ein willkommener Anlass für Zehntausende von ihnen, ihrem Heimatland für immer den Rücken zu kehren. Eli Hoorizadeh, ein Onkel der Familie Musazadeh, der Rabbiner werden wollte, hat Iran 1980 kurz nach der Revolution hinter sich gelassen, da er für seine Karriere keine Zukunft gesehen hätte. Er lebt heute mit seiner Frau und dreizehn Kindern in Jerusalem. «Er ist froh, nicht mehr in Iran zu sein, und hat auch kein Interesse daran, jemals wieder zurückzukommen. Er hat in Israel ein Zuhause gefunden, das Iran ihm nie sein konnte», sagt seine Nichte Eliyan.

Nach einem langen Abend sitzt die Familie zusammen im Wohnzimmer, jeder fiebert gespannt mit bei der iranischen Ausgabe von «Wer wird Millionär?», während in der Küche noch ein Tee zieht. Den westlichen Vorstellungen, dass die iranischen Juden vor allem an ihrer Regierung leiden würden, widerspricht auch Eliyan. Gefragt nach ihren Wünschen für die Zukunft, antwortet sie: «Wenn ich als Jüdin einen Wunsch an die iranische Regierung richten könnte, dann würde ich mir ein paar nette, hübsche, jüdische Jungs wünschen, damit ich endlich jemanden zum Heiraten finde.»

Die Familie sitzt abends nach dem Essen vor dem Fernseher. Sie schauen jedes Wochenende «Wer wird Millionär».

Die Familie sitzt abends nach dem Essen vor dem Fernseher. Sie schauen jedes Wochenende «Wer wird Millionär».

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