Gastkommentar

Bist du mit uns, Schwester? – Der postmoderne Feminismus verleugnet die echten Probleme

Vor hundert Jahren gingen Feministinnen auf die Strasse, um nicht mehr als kleine Mädchen behandelt zu werden. Heute wird der Opferstatus hochgehalten. Damit wird auch konsequent das erklärte Ziel der Frauenbewegung verraten: dass Frauen frei entscheiden, wie sie leben wollen.

Birgit Kelle 69 Kommentare
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Feminismus, aber welcher? Bei all den vielen Interessen ist es unübersichtlich und ungemütlich geworden.

Feminismus, aber welcher? Bei all den vielen Interessen ist es unübersichtlich und ungemütlich geworden.

Peter Klaunzer / Keystone

Sind Sie Feministin? Zögern macht verdächtig. Die Frage wird als Lackmustest der Szene vollzogen. Bist du mit uns, Schwester? Das Kollektiv stellt sofort zur Rede, wenn jemand versucht auszuscheren. Die Gruppenleiterinnen sind da erbarmungslos. Dabei ist es unbedingt angeraten, die Selbstbezichtigung als Feministin abzulehnen. Denn der Begriff ist vorbelastet durch eine Bewegung, die über die Jahre ihre Ansichten radikal verändert hat und inzwischen für alles steht – und manchmal auch für das Gegenteil.

«Du sollst gefälligst Feministin sein!», heisst das erste der 10 feministischen Gebote. Es beantwortet aber nicht die Frage, was denn nun Feminismus ist, wofür man sein muss und wogegen, um dazuzugehören. Ist man dann für Genderfeminismus und darf es etwas Gender-Pay-Gap sein? Mit oder ohne Quote obendrauf? Der Männerhass auf einem Extrateller oder lieber gut durchgemischt? Ist man als Feministin für die Gleichberechtigung oder für die Gleichstellung, und kennen überhaupt alle den Unterschied? Ist man für Abtreibung oder Pro Life? Ist man für die Hausfrau oder für die berufstätige Frau? Rabenmutter oder Milchkuh? Mutterschaft als erfüllendes Glück oder das Kind als Klotz am Bein? Ist Leihmutterschaft Ausbeutung oder der neue Berufsstand einer «Reproduktionsarbeiterin»? Ist das islamische Kopftuch Zeichen der Unterdrückung oder die neue Flagge muslimisch-weiblicher Emanzipation? Gibt es zwei Geschlechter oder tausend?

Im Opfertopf

Postmoderner Feminismus zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit verschiedener Phänomene aus: die Konzentration auf Nebenkriegsschauplätze bei gleichzeitigem Verleugnen echter Probleme. Die Vernachlässigung der Mehrheit durch Aufmerksamkeitsverschiebung in Richtung neuer Minderheiten. Im Opfertopf des intersektionalen, antirassistischen und antifaschistischen Feminismus dürfen identitäre Gruppen, sexuelle Minderheiten und gefühlt Diskriminierte mitspielen, so sie sich irgendwie benachteiligt fühlen.

Naturgemäss ist es bei all den vielen Interessen unübersichtlich und ungemütlich geworden. Das Hauen und Stechen ist in vollem Gange, denn die Opferhierarchie wird gerade ausgekämpft. Die weisse heterosexuelle Hausfrau befindet sich ganz unten, die bisexuelle, schwarze Transfrau kann hingegen mit vielen Opferpunkten glänzen. Talk-Sendungen werden bis auf den letzten Platz nach Quote besetzt: Geschlecht darf keine Rolle spielen – sind genug Frauen da? Hautfarbe darf keine Rolle spielen – wieso sitzen da keine People of Color? Herkunft ist egal – wir brauchen noch einen Migranten! Alter darf keine Rolle spielen – schafft ein Kind herbei! Religion ist irrelevant – schnell noch eine Kopftuch-Muslima her! Sexualität darf keine Rolle spielen – wo bleibt die Lesbe?

Dennoch darf die Existenz eines Frauenkollektivs nicht infrage gestellt werden, denn dieser Mythos ist schon so lange nützlich. So viele leben gut davon, gemeinsam als Opfer aufzutreten. Das ist nötig, um drohende Abtrünnige zu binden, Aufmüpfige in ihre Schranken zu verweisen und die Fahnenflüchtigen zu stigmatisieren. Sieh, da läuft die böse Schwester, die nicht mitzieht.

Frau sein darf jetzt jeder

Frauen müssen zusammenhalten, gleichzeitig ist dieselbe Bewegung nicht einmal mehr in der Lage, zu benennen, was denn nun eine Frau überhaupt sei. Wann ist eine Frau eine Frau? Wenn DNA, Chromosomen, Biologie, Natur und wissenschaftliche Fakten sich dem gefühlten Geschlecht und selbst definierten Kategorien beugen sollen? Klar ist, dann wird Weiblichkeit zur Phrase. Es ist nahezu absurd, überhaupt noch von einer «Frauenbewegung» zu sprechen, wenn man das Frausein als natürliche Kategorie nicht nur verleugnet, sondern gar bekämpft. Wenn doch niemand mehr wagt, unumstössliche Kriterien der Weiblichkeit überhaupt noch zu benennen, aus lauter Angst, sich eines surrealen, intoleranten Gedankendelikts oder einer «Phobie» schuldig zu machen? Ist eine Transfrau also eine echte Bio-Frau oder ein Fake-Frau? Und ist nicht allein die Frage bereits verdächtig?

Frau sein darf jetzt jeder, der gerne Frau sein möchte. Auch und gerade Männer. Wer sich dem widersetzt, gilt als transphob. Frauen, die widersprechen, werden als «Terf» («trans-exclusionary radical feminist») stigmatisiert, weil sie sich dem Raub der Weiblichkeit widersetzen.

Auch die Ikone der Gendertheorie Judith Butler hatte niemals vor, die Frau zu retten, auch wenn sich diese Illusion bis heute als Mythos hält. Sie hält Weiblichkeit für eine kulturell geprägte «Performance», für ein Schauspiel, das uns unterdrückt und unterjocht und entsprechend dekonstruiert werden muss, das hübschere Wort für «zerstört». Butler ist nicht die Retterin der Weiblichkeit, sondern nur ein Sargnagel zu ihrer endgültigen Entsorgung.

Opportunistisch und paradox wird dennoch ständig die «Frauenpower» beschworen, das «Wir können alles» und «noch besser als die Männer». Dieselbe Bewegung verfällt jedoch innerhalb von Sekunden in Opferstarre, wenn es nutzt, um Vorteile aus der angeblich nicht existenten Weiblichkeit zu erlangen. Der angeborene Opferstatus der Frau ist ein Segen für einen ganzen Apparat von Gleichstellungsbeauftragten und Diversity-Experten. Er wird nie aus der Mode kommen, denn da ständig neue Opfer geboren werden, wird die Arbeit nie enden.

«Yes, we can»

Vor hundert Jahren gingen Feministinnen auf die Strasse, um nicht mehr als kleine, wehrlose Mädchen behandelt zu werden. Es war ein sehr frühes «Yes, we can», eine kraftvolle Selbstermächtigung der ersten Emanzipationsbewegung. Heute ist es entsprechend ein bedauerlicher Rückschritt, wenn nun wieder so getan wird, als sei frau ein Käfer, der auf dem Rücken liegt und nur mit fremder Hilfe wieder auf die Füsse kommt. Kämpfte der Feminismus der ersten Stunde noch gegen konkrete Entrechtung und Diskriminierung, ist der Opferstatus heute durch das ominöse «System des strukturellen Sexismus» manifestiert.

Das Dogma der unbefleckten Opferweiblichkeit wird dabei mancherorts härter verteidigt als die Jungfräulichkeit Marias in der katholischen Kirche. Das ist strategisch eminent wichtig zur Begründung aller Sexismusdebatten, die wir bereits erlebten und die noch kommen werden. Gefühlte Belästigung gewinnt damit bereits Anklagestärke. Fakten sind egal, solange eine Frau weiss, wie sie sich gefühlt hat. Oder will jemand behaupten, eine Frau lüge? Die «rape culture» ist überall. Dieses heteronormative System aus Tradition, Religion und Kultur, das den Mann stützt und die Frau unterdrückt.

Da die Klassengesellschaft nach Marx durch Wohlstand relativiert wurde, bleibt auf der Täterseite abseits sexuell und kulturell vielfältiger Gruppen also nur noch einer übrig: der alte, heterosexuelle, weisse Mann als Hüter des Patriarchats, als traditioneller Kolonialist, immerwährender Sexist und gieriger Kapitalist. Hoch lebe die Renaissance der Erbschuld.

Wer auf echte Macho-Gesellschaften schaut

Aus unerfindlichen Gründen scheint dies patriarchale System aus neofeministischer Sicht jedoch einen Bogen um die echten Macho-Gesellschaften zu machen. Die Massenvergewaltigungen an Frauen in Indien und die Steinigungen von Frauen in islamischen Gesellschaften anzuprangern, ist entsprechend Rassismus, denn die kultursensible Feministin weiss, das ist keine Unterdrückung der Frau, sondern bloss ein «kultureller Unterschied».

Wie wunderbar für die Frauen in Iran! Diese wollen übrigens keine Opfer mehr sein. Ihr Feind ist nicht alt, weiss und männlich, sondern auch jung, farbig und verwandt. Dass sie das ständig in Erinnerung rufen und damit das hübsch gezimmerte Feindbild des westlichen Wohlstandsfeminismus ruinieren, kommt hier nicht so gut an, weswegen ihnen das westliche Frauenkollektiv zur Strafe auch die Unterstützung versagt.

Das einzig Kollektive an der Frauenbewegung ist also möglicherweise, dass ihre Toleranz über den selbst für richtig empfundenen Lebensweg nicht hinausreicht. Damit wird konsequent und andauernd das verraten, was einst erklärtes Ziel der Frauenbewegung war: dass Frauen frei entscheiden, wie sie leben wollen. Früher gegen den Willen von Männern. Heute leider gegen den Willen anderer Frauen. Die Theorie vom «Ende der Geschichte» ist auch für die Geschichte des Feminismus nur ein Mythos. Es wird nie ein Ende geben.

Birgit Kelle ist eine deutsche Journalistin und Publizistin. In diesen Tagen erscheint ihr neues Buch «Noch normal? Das lässt sich gendern! Gender-Politik ist das Problem, nicht die Lösung». FB-Verlag, München 2020. 250 S., Fr. 27.95.

69 Kommentare
C hrista Halbeisen

Klasse! Gratulation zum Artikel und zum Buch. Die Kirtik am Gender-Wahn ist berechtigt. Gut, dass es die liberale NZZ gibt. Political-Correctness in den dtsch. Leitmedien hätte den Artikel nicht gedruckt. Danke, NZZ, für die Offenheit! Christa Halbeisen

Rolf Eicken

Meine Hochachtung, Frau Kelle! Endlich mal eine Analyse dieses Gender-Wahnsinns, gespickt mit Humor und dem notwendigen Sarkasmus. Die Feministinnen haben sich selbst auf einen Sockel gehoben, von dem sie jetzt selbst nicht mehr wissen, wie sie von ihm herunter kommen können. Viele Frauen haben erkannt, dass Gender eine Sackgasse ist.