Die erste Bar Mizwa
Knapp drei Monate nach der Befreiung, am 28. Juli 1945, feierte die wieder gegründete Jüdische Gemeinde Berlin die erste Bar Mizwa nach Ende des Krieges. Es war eine überaus bewegende und bedeutsame Zeremonie. Denn der Bar Mizwa-Junge Klaus Zwilsky war eines der sehr wenigen jüdischen Kinder in Berlin, die überlebt hatten.
Widmung für Klaus Zwilsky zur Bar Mizwa (1945-07-28) von Erich Nelhans (Jüdische Gemeinde zu Berlin)Jüdisches Museum Berlin
Nach dem jüdischen Kalender fand die Bar Mizwa am Schabbat, den 18. Aw 5705 statt. Im Betsaal des Jüdischen Altersheims in der Iranischen Straße wurde der 13-jährige Klaus Zwilsky zur Lesung aus dem Wochenabschnitt der Tora, der Parascha, und aus den Prophetenbüchern, den Haftara aufgerufen. Damit wurde er religionsmündig.
Die Jüdische Gemeinde machte Klaus Zwilsky ein besonderes Geschenk: Eine 1921/22 gedruckte Pessach-Haggada mit Holzschnitten des deutsch-jüdischen Künstlers Jakob Steinhardt, der 1933 nach Palästina emigriert war. Die Haggada war nur in einer geringen Auflage von 200 Stück gedruckt worden.
Haggada-Illustration »Zug durch's Rote Meer« (1921/22) von Jakob SteinhardtJüdisches Museum Berlin
In der Haggada wird die Geschichte der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft geschildert.
Es war ein sehr symbolträchtiges Geschenk, schließlich hatte Familie Zwilsky erst drei Monate zuvor ihre eigene Befreiung erlebt.
Erich Nelhans, der Vorstand der Jüdischen Gemeinde, gratulierte mit einem »herzlichen Massel Tow«.
Kartenspiel »Max und Moritz« von Klaus Zwilsky (1940) von Verlag Franz SchmidtJüdisches Museum Berlin
Die Bar Mizwa symbolisiert im Judentum auch den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter.
Klaus Zwilsky hatten die Nationalsozialisten seiner Kindheit beraubt. Zwar waren seine Eltern Ruth und Erich stets bemüht gewesen, ihrem Sohn eine möglichst »normale« Kindheit zu ermöglichen, aber unter den Bedingungen der NS-Verfolgung und den Deportationen war dies ein hoffnungsloses Unterfangen.
Überleben
Familie Zwilsky gehörte zu der kleinen Zahl von Personen, die – obwohl von den Nazis als »Volljuden« eingestuft – nicht in einer sogenannten Mischehe oder im Versteck den Krieg in Berlin überlebt hatten. Sondern es war Erich Zwilskys Tätigkeit als Apotheker im Jüdischen Krankenhaus ab 1941, die die dreiköpfige Familie vor der Deportation bewahrte. Seit Anfang 1943 war das Krankenhaus auch der Wohnort der Zwilskys.
Als 10-Jähriger hatte Klaus Zwilsky im August 1942 eine Kennkarte erhalten. Drei Jahre später wurde sie auf dem Polizeirevier verlängert: Der Ausweis mit dem »J« und dem Zwangsnamen »Israel« behielt »vorläufig seine Gültigkeit«.
Erst im Mai 1947 erhielt die Familie neue Papiere, die nicht mehr die sichtbaren Zeichen der Diskriminierung und Verfolgung trugen.
Am 24. April 1945 war Klaus Zwilsky mit seinen Eltern und etwa 800 im Krankenhaus befindlichen Juden von sowjetischen Truppen befreit worden.
Ein Kommandant der sowjetischen Armee händigte seinem Vater Erich Zwilsky dieses Schriftstück aus, in dem er die Unterdrückung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung sowie von Zivilisten »kategorisch verbot«.
Drei Wochen nach der Kapitulation der deutschen Hauptstadt übernahm Erich Zwilsky die Verantwortung für die einzige jüdische Institution, die den Krieg überdauert hatte: Er wurde zum Verwaltungsleiter des Jüdischen Krankenhauses Berlin ernannt.
Arbeiten
Nach Jahren der Zwangsarbeit begann auch Ruth Zwilsky im Krankenhaus zu arbeiten. Erstmals, seit sie vor 13 Jahren diesen Beruf erlernt hatte, war sie wieder als Apothekerin tätig. »Mein Mann wollte es zwar nicht so gern haben, denn er meint, es ist endlich Zeit, dass ich mich ein wenig erhole, aber die Arbeit ist für mich die beste Medizin, da komme ich wenigstens nicht zum Nachdenken.« Drei ihrer Geschwister waren in Auschwitz ermordet worden.
Wieder in der Schule
Am 1. Juli 1945 wurde Klaus Zwilsky in die Lessing-Oberschule im Berliner Bezirk Wedding aufgenommen. Es war sein erster Schulbesuch seit mehr als drei Jahren.
Klaus Zwilsky bei seiner Einschulung (1938) von unbekanntJüdisches Museum Berlin
1938 war Klaus Zwilsky in die 4. Private Volksschule der Jüdischen Gemeinde eingeschult worden. 1941 wechselte er dann auf die Private höhere Schule der Jüdischen Kultusvereinigung zu Berlin e.V.
Wie alle anderen damals noch existierenden jüdischen Erziehungseinrichtungen war die Schule infolge der Auflösung des jüdischen Schulwesens Ende Juni 1942 geschlossen worden.
Im Sommer 1945 herrschte in Berlin eine Typhusepidemie. Um ihn davor zu schützen, wurde Klaus im Jüdischen Krankenhaus gegen die Infektionskrankheit geimpft. Zwei weitere Impfungen folgten im wöchentlichen Abstand.
Der Arzt Dr. Helmut Cohen, der später in die USA emigrieren sollte, stellte die Bescheinigung aus.
... aus Deutschland auswandern
Auch wenn sie überlebt hatten, sorgten sich die Zwilskys um die Zukunft. Im August 1945 verfasste Erich Zwilsky einen Bericht über die Lage der Juden in Berlin. Darin beschrieb er ihre bedrückenden Lebensumstände. Sie waren nicht nur wie alle anderen mit der schlechten Ernährungslage, sondern weiterhin mit Antisemitismus – auch in der Magistratsverwaltung – konfrontiert. Die Konten waren gesperrt, auch das der Jüdischen Gemeinde. Dies gefährdete die Arbeit des Krankenhauses, das nicht nur dringend Medikamente, sondern auch Bettwäsche, Handtücher, Betten und Decken benötigte. Erich Zwilsky stellte fest, dass die Mehrheit der Überlebenden Deutschland verlassen wolle.
Erich Zwilsky mit einem US-amerikanischen Kriegsreporter (1945) von unbekanntJüdisches Museum Berlin
Auch für Familie Zwilsky stand ein dauerhaftes Bleiben nicht zur Debatte. Ihr Ziel waren die USA.
Ruth Zwilsky betonte dies in einem im Januar 1946 verfassten Brief: »Wir wollen so schnell wie möglich dieses ›gastliche‹ Land verlassen.« Auch drei Geschwister von Erich Zwilsky waren in den Kriegsjahren umgebracht worden.
Nach Schweden
Obwohl sie zwei Bürgschaften (Affidavits) erhielten, war ihnen der direkte Weg in die Vereinigten Staaten jedoch verwehrt. Im Juli 1946 verließen sie trotzdem Deutschland und reisten mit einem Bustransport des Roten Kreuzes über Dänemark nach Schweden. Zuvor mussten sie die schriftliche Erlaubnis von allen vier Besatzungsmächten einholen.
Schwedischer Ausländerpass für Klaus Zwilsky Schwedischer Ausländerpass für Klaus Zwilsky von Staatliche Ausländerkommission SchwedenJüdisches Museum Berlin
Für einige Monate wohnte Familie Zwilsky in Stockholm und überbrückte dort die Wartezeit bis zur Weiterreise.
Im November 1946 bekam Klaus Zwilsky, der immer noch deutscher Staatsbürger war, einen Ausländerpass ausgestellt. Am 13. Dezember 1946 erhielt er den Visumsstempel für die ersehnte Einreise in die USA.
In die USA
Im Januar 1947 reiste Familie Zwilsky von Göteborg aus mit einem Passagierschiff nach New York. Nach ihrer Ankunft zogen sie nach Lakewood, New Jersey, wo Verwandte eine Hühnerfarm betrieben.
In der USA konnte Klaus Zwilsky seine Schulausbildung fortsetzen.
Nachdem sein Vater als Apotheker im Marlboro State Hospital New Jersey eine Anstellung bekam, ließ sich die Familie im Nahe gelegenen Ort Freehold nieder. Dort beendete Klaus 1950 die High School.
Zeitungsartikel über Klaus Zwilsky (1950-03-09) von The Freehold TranscriptJüdisches Museum Berlin
Im März 1950 erschien in der Lokalzeitung ein Artikel über das Schicksal des 17-Jährigen und seiner Eltern in der NS-Zeit.
Nach dem Schulabschluss studierte Klaus Zwilsky Metallurgie am renommierten Massachusetts Institute of Technology.
Zeitzeugenschaft
Im Jahr 2003 stiftete Klaus Zwilsky dem Jüdischen Museum Berlin seine sehr bedeutende Sammlung von Dokumenten, Fotografien und Objekten. Seitdem ist er mehrmals nach Berlin gereist, um im Jüdischen Museum mit Schülern über das Leben und Schicksal seiner Familie in der Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen.
Alle Dokumente und Fotos:
Jüdisches Museum Berlin
- Sammlung Familien Zwilsky / Herzberg
- Sammlung Herbert Sonnenfeld
Text und Objektauswahl: Aubrey Pomerance
Redaktion: Henriette Kolb, Jörg Waßmer, Mitarbeit: Lisa Schank
Übersetzung: Jill Denton, Michael Ebmeyer
Englisches Korrektorat: Julia Bosson
Reprofotografie: Jens Ziehe
Wir danken dem Stifter Klaus M. Zwilsky und dem Leihgeber Friends of the Jewish Museum Berlin!